Auszug "Frei atmen"

 

Genre: Entwicklungsroman

Status: abgeschlossen (06.01.2024)

Verfasser: Susanne Kämmerer

Länge: 421 Normseiten (Stand 06.01.2024)

 

 

Plot:

Vor eineinhalb Jahren trifft der Engländer Chris, 34, den smarten Physikstudenten Alexander, 25, in einem Café am Hauptbahnhof Hamburg. Was als Smalltalk zwischen zwei Kaffeetassen und zwei Unbekannten beginnt wandelt sich im Laufe der kommenden Monate zu einer Romanze, die beide auf eine harte Probe stellt, denn: Chris ist verlobt – mit der 31-jährigen Nicole. Die Schuldgefühle des Treuebruchs seiner Verlobten gegenüber und seine Angst vor einem Outing und dem Eingestehen seiner Liebe zu Alexander, die beständig über die Zeit hinweg fast gegen Chris' Willen wächst, scheinen ihn innerlich aufzufressen. Was er in Hamburg treibt widerspricht allem, was er selbst so häufig in seinem Bekanntenkreis predigt.Zermürbt von seinem Gewissen und seinen Gefühlen offenbart er sich schließlich seiner besten Freundin Julia. In diesem Gespräch wird klar: Er liebt Alexander. Und er muss sich entscheiden.

 

 

 

Leseprobe: 

Chris konnte nicht leugnen, dass ihm Alexander gefiel oder dass der bloße Anblick der nackten Haut vor sich und die sanften Bewegungen seines Körpers erneut Verlangen in ihm aufsteigen ließ. Er traute sich kaum zu atmen, um nicht gefangen zu werden von den Erinnerungen an die vergangene Nacht. Unwillkürlich entwich Chris ein gedämpfter, ungläubiger Lacher. Dieser Moment kam ihm unsagbar irreal vor. Er konnte kaum glauben, wie sich aus einem Gespräch in einem Café am Bahnhof diese Situation entwickeln konnte und wie er innerhalb von 6 Monaten alles, was er bislang über sich dachte und seine Prinzipien über Bord werfen konnte.

Er zog die Decke von sich, setzte sich auf die Kannte des Bettes, stütze die Ellbogen auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den Händen. Seine Atmung war tief und ruhig – ganz im Gegensatz zu seinen Gedanken, die förmlich anfingen zu rasen. Er fühlte sich mit einem Mal schuldig, verschämt und unwohl.

Was er definitiv brauchte, war eine Abkühlung, um auf andere Gedanken zu kommen. Er stand auf, ging ins Badezimmer, stellte sich vor das Waschbecken und drehte den Regler des Wasserhahns auf die kälteste Stufe. Das Wasser ließ er so lange laufen, bis es fast unerträglich kalt war, beugte sich nach vorne und hielt seinen Kopf unter das kalte Nass. Sofort begann er heftig zu atmen. Es ließ ihm den Atem stocken. Er zog den Kopf unter dem Wasser weg und ließ es stattdessen in seine Hände laufen, um sein Gesicht damit zu benetzen. Binnen Sekunden war er hellwach und drehte das Wasser ab. Die Hände auf dem Rand des Waschbeckens abgestützt, stand er mit gesenktem Kopf tropfend vor dem Spiegel, bis er ihn schließlich hob und sich anschaute. Wie gerade vor ein paar Minuten entwich ihm derselbe ungläubige Lacher. Er schüttelte den Kopf und schaute nach unten, als er plötzlich ein vertrautes Piepen hörte. Als er dem Geräusch nachging, fand er seine Hose und Shirt auf dem Boden, hob diese an und erblickte sein Smartphone. Auf dem Display: 1 Anruf in Abwesenheit, 1 verpasster Alarm und 6 neue Nachrichten. Chris stellte das Gerät auf lautlos und ging zurück ins Badezimmer. Er klappte den Toilettendeckel nach unten, setzte sich hin und begann zu lesen.

 

Nicole 00.39 Uhr: Ich gehe ins Bett

Nicole 07.50 Uhr: Wann kommst du heute Abend?

Nicole 07.50 Uhr: Schaffst du es vor 19 Uhr? Cara wollte was essen, später noch Cocktails trinken. Willst du mit? Jochen kommt auch.

Nicole 10.09 Uhr: Wo bist du?

Nicole 10.09 Uhr: Ist was passiert?

Nicole 10.24 Uhr: Chris?

Nicole 10.39 Uhr: verpasster Videoanruf

 

Augenblicklich überfiel Chris sein schlechtes Gewissen noch mehr. Er atmete kurz tief und schüttelte den Kopf. Was tat er hier? Er wendete seinen Blick auf das Display des Smartphones und begann zu tippen.

 

Chris 10.41 Uhr: Sorry.

Chris 10.41 Uhr: 13 Uhr Mittagessen mit Lewis und Daniel. Danach kurz Büro und Hotel meine Sachen holen. Vor 20 Uhr bin ich nicht zuhause.

 

Chris überlegte kurz. Ihm war flau im Magen. Er wusste nicht, wie er Nicole nach gestern Nacht in die Augen sehen sollte. Wie er sich verhalten sollte.

 

Chris 10.43 Uhr: Du kannst gehen. Ich werde vermutlich zu platt sein.

 

Die Häkchen hinter der Nachricht färbten sich blau.

 

Nicole 10.44 Uhr: Okay.

 

Chris atmete erleichtert aus. Das Problem war zwar nicht behoben, aber zumindest verschoben. Er sperrte das Display und legte das Smartphone vor sich auf den Unterschrank des Waschbeckens ab. Er lehnte sich zurück an die kalte Wand und starrte vor sich hin. Kein einziger klarer Gedanke erreichte ihn. Alles in seinem Kopf raste, und ihm wurde mit einem Mal so übel, dass er sich am liebsten übergeben hätte. Er ließ seine rechte Hand über seinen Bauch streichen und fühlte wie klebrig seine Haut war. Als er an sich herunter schaute, sah er die offensichtlichen Spuren von letzter Nacht in seiner Schambehaarung. Die Erinnerungen schossen ihm nun ungetrübt klar durch den Kopf. Das Blut spürte er förmlich von seinem Kopf abfließen und seine Erregung größer werden. Chris fühlte sich machtlos den Erinnerungen unterworfen und dem, was sie mit ihm machten.

Er stand auf, trat in die gläserne Duschkabine und schob die Tür zu. Mit dem Gesicht zur Wand stellte sich Chris direkt unter die Brause und drehte das Wasser kalt auf. Es lief ihm über die Haare das Gesicht herunter, sodass er kaum Luft bekam. Er öffnete den Mund, um überhaupt atmen zu können. Die Kälte schmerzte auf seiner Haut. Seine Atmung wurde kürzer und es kam ihm vor, als würde sein Körper in eine Art Overdrive stürzen. Aber es klärte seine Gedanken. Er konnte an nichts mehr denken.

„Guten Morgen!“, hörte er plötzlich Alexanders Stimme.

Chris drehte den Hahn zu, wischte sich mit beiden Händen das Wasser aus dem Gesicht und die Haare aus der Stirn, bevor er sich umdrehte. Alexander stand mit verschränkten Armen nackt an das Waschbecken gelehnt und schaute ihn an. Er schien amüsiert.

„Guten Morgen“, entgegnete Chris. Er fühlte sich ertappt. Wie lange hatte Alexander wohl schon dort gestanden und ihn beobachtet?

„Hast du vor eine neue Eiszeit auszurufen mit der kalten Brühe oder willst du dich einfach nur schockgefrieren?“

Alexander schmunzelte zwar, aber Chris war sich sicher, in seinem Blick auch Verwirrung zu sehen. Chris schüttelte leicht den Kopf. „Ich musste nur irgendwie wach werden“, flunkerte er. Aber es war nicht ganz gelogen.

„Harte Nacht gehabt?“ Alexanders Lächeln wirkte aufgesetzt.

„Ziemlich“, antwortete Chris. Er hatte den Eindruck, dass er fast schon verschämt wirken musste. Und tatsächlich entsprach dies auch seinem momentanen Empfinden. Nicht unbedingt weil er mit Alexander geschlafen hatte. Er schämte sich, weil er nicht wusste, wie er nun mit ihm umgehen sollte und weil er nicht wusste, welches Verhalten sich Alexander von ihm erhoffte. Chris kam sich vor wie ein kleines Kind, das auf Anweisungen wartete. Er fühlte sich schuldig, verwirrt und überfordert einer Situation gegenüber, die er so nie geplant hatte.

„Zu hart?“, setzte Alexander ruhig nach, woraufhin Chris verneinend den Kopf schüttelte. Es war gelogen. Zumindest halb. Und er war sich fast sicher, dass sein Gegenüber diese Lüge erkannt hatte. Körperlich ging es ihm gut. Innerlich war er zerrissen. Alexander nickte, schaute kurz unter sich, löste die verschränkten Arme und stellte sich gerade auf. „Was dagegen, wenn ich reinkomme?“ Erneut schüttelte Chris den Kopf. Aber er war sich unsicher, ob er es wirklich wollte. Als Alexander die Glastür der Dusche öffnete, wich Chris ein Stück zurück, um ihm Platz zu machen. „Ich hatte nicht ganz so eine harte Nacht. Das Wasser darf bei mir deshalb ein bisschen wärmer sein.“ Er lächelte seinem Gegenüber zu und lehnte sich an Chris vorbei, um das Wasser einzuschalten. Ähnlich wie Chris ließ er das Wasser über seinen Kopf laufen und blieb eine Weile so stehen, während sein Gegenüber ihn beobachtete. Chris schien unfähig jeder Bewegung, als er Alexander dabei zusah, wie er sich selbst anfasste und über seine Haut strich. Als Alexander ganz und gar nass war, trat er ein Stück nach vorne, um dem Strahl zu entgehen und öffnete die Augen. Chris‘ Stille und Starre waren ihm nicht entgangen.

„Alles okay mit dir?“, fragte er ruhig und schaute ihn an.

Chris nickte leicht. „Ja“, entgegnete er leise.

„Ist das die deutsche oder die englische Antwort?“, feixte Alexander zurück, aber man sah ihm an, dass er die Antwort kannte. Sein Gegenüber schwieg. Alexander lehnte sich nach vorne und drehte das Wasser aus. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, schaute er Chris direkt in die Augen. „Habe ich was falsch gemacht?“ Er pausierte kurz, während Chris den Kopf schüttelte. „Habe ich dir wehgetan?“, fragte Alexander mit weicher Stimme und strich ihm mit der rechten Hand über die Wange.

Chris schnaubte kurz gequält amüsiert durch die Nase. „Nein, hast du nicht.“ Er schüttelte leicht den Kopf, schaute Alexander flüchtig in die Augen und senkte anschließend den Blick.

„Nein, habe ich nicht“, spiegelte er Chris Antwort und schüttelte ebenfalls den Kopf. Allerdings schien Alexanders Geste ratlos. Er schaute ihn weiter an und wirkte mit jeder Sekunde, in der sein Gegenüber schweigsam blieb, verunsicherter. „Du weißt, dass du genau das gleiche machst, wie vor 7 Wochen, oder?“ Sein Ton erschien härter, aber dennoch verständnisvoll. Alexander schaute Chris prüfend an. Dieser nickte zustimmend kaum sichtbar und hob den Blick. „Der Unterschied zu damals ist aber, dass ich mich heute nicht mit ‚Wir-vergessen-was-passiert-ist‘ abgebe.“ Seine Stimme war immer noch sehr ruhig. „Also: Was ist los? Wieso jetzt 180 Grad zurück?“ Sein Blick blieb prüfend. Er wich keine Sekunde von ihm ab. Als Chris nach etwa 5 Sekunden noch immer nicht geantwortet hatte, atmete Alexander einmal tief ein und aus, bevor er erneut das Wort ergriff. „Okay… Dann sage ich erst mal was dazu.“ In Chris spannte sich schlagartig jeder Muskel an und sein Stresslevel stieg. Er konnte nicht einschätzen, in welche Richtung Alexanders Kommentar zu letzter Nacht gehen würde. „Ich fand letzte Nacht schön“, sagte Alexander sehr ruhig. Er klang ehrlich und Chris konnte sehen, dass es ihm nicht unbedingt leicht fiel. „Und heiß. Beide Male…“, fuhr er fort und biss sich mit einem verschmitzten Grinsen auf die Unterlippe. „Und egal, was ich mir vor 12 Stunden vorgestellt hatte, wie gestern Nacht vielleicht ablaufen würde: Was tatsächlich passiert ist, war nicht dabei. Zumindest das mit dir nicht. Vor allem nach deiner Abfuhr vor 7 Wochen.“ Er wendete kurz seinen Blick von Chris ab, schaute ihn aber dann wieder an. „Und das Szenario genau jetzt“, er stockte kurz, „ist definitiv keines von denen, die ich mir nach gestern Nacht für heute ausgemalt hätte.“ Chris konnte die Verzweiflung in Alexanders Augen sehen. „Und ich brauche dich, um mir zu erklären, wie ich mich zweimal so absolut verschätzen kann. Vor allem warum du jetzt hier stehst, als hätte ich dir was angetan. Ich hatte nämlich nicht den Eindruck, dass das der Fall war.“ Erneut schaute er ihn fragend an, aber Chris schwieg, was Alexander gequält amüsiert auflachen ließ. „Ich kann ja mal versuchen, dir ein paar Antwortmöglichkeiten zu geben, die mir die letzten Minuten durch den Kopf gegangen sind. Du sagst dann einfach nur, ob Erklärung eins, zwei, drei oder vier dem am nächsten kommt, was hier gerade passiert.“ Alexander schien sich zu ordnen, bevor er weitersprach. „Möglichkeit 1: Sex mit mir war gestern absolut schlecht. Möglichkeit 2: Du hast ein schlechtes Gewissen, weil du fremdgegangen bist. 3: Du bist in Schockstarre, weil du Sex mit einem Kerl hattest und es erst mal verdauen musst. Oder 4: Du musst damit zurechtkommen, dass es dir vielleicht sogar gefallen hat.“ Er zählte kurz durch. „Eins, zwei, drei oder vier?“

Chris schluckte. „Definitiv nicht eins“, sagte er schließlich. „Aber zwei, drei und vier.“

„Okay“, entgegnete Alexander nickend und schaute an ihm vorbei. „Verstehe ich.“ Sein Blick richtete sich auf Chris. „Been there, done that.[1] Zumindest die letzten zwei.“ Er lächelte gequält. „Die Frage ist nur: Wie hast du vor, damit umzugehen?“

Chris zog kaum sichtbar die Schultern nach oben und schüttelte ebenso unmerklich den Kopf. Es war keine aktive Flucht in die Unmündigkeit. Die Situation machte ihn verrückt. Sein Gewissen hatte bereits für ihn den Galgen errichtet, während der Teufel zu seiner Linken ihm wohlwollend auf die Schulter klopfte. Auch war er nicht ganz sicher, ob ihm nicht der Engel zu seiner Rechten ebenfalls entgegen nickte und ihm sogar gut zusprach. Kurz schloss er die Augen und atmete tief einmal mit offenem Mund ein und aus.

Langsam hob Chris den Blick und schaute Alexander in die Augen, in denen er erneut dieses herzliche Bangen erkennen konnte: angespannt und beruhigt, bebend und ruhend, wartend und bereit zugleich. Dieser Blick war genug. Er wusste, dass bereits jetzt jede Gegenwehr nutzlos war, dass er bereits jetzt gefangen war in Alexanders Bann. Dass er sich bereits jetzt vorstellte, was als nächstes passieren würde und sich zurückerinnerte, was letzte Nacht war. Sein Kopf vermischte beides miteinander, sodass er kaum fähig war zu unterscheiden, was davon Vorstellung, Gegenwart und was Erinnerung war. Dieser Blick war genug. Er löste in Chris eine Spannung aus, die er kaum aushalten konnte. Noch bevor Alexander ihn berührte, hatte er es bereits getan allein mit diesem Blick. Er war ihm bereits erlegen, ergeben, verfallen. Dieser Blick war genug.

„Soll ich wieder rausgehen?“, hörte er Alexanders Stimme sanft.

„Nein“, entgegnete Chris leise kopfschüttelnd nach einer Weile, hob seine rechte Hand und strich sanft Alexanders Hals herunter und ließ sie auf seiner Brust liegen. Er spürte die Wärme seiner Haut und Alexanders Herz unter seinen Fingerkuppen schlagen, während sein Brustkorb sich langsam hob und senkte.

 

[1] Sinngemäß: „An dem Punkt war ich auch schon, habe ich schon gemacht.“

 

 

Laut der Jury der Bibliothek deutschsprachige Gedichte "beherrsche ich mein Handwerk". Ist doch nett... :)

 

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